Wir blicken 2024 zurück auf 35 Jahre Nachwendezeit. Wie hat sich in dieser Zeit das Kulturleben in Magdeburg verändert?
Regina-Dolores Stieler-Hinz: Die Gesellschaft und ihre Ansprüche haben sich transformiert. Und natürlich auch die Ansprüche an die Kultur. Insbesondere die Hochkultur hat sich sehr gewandelt. Wir haben in der Stadt nicht mehr nur ein Angebot für eine spezielle Zielgruppe. Der Anspruch seitens der Gesellschaft und der Kulturschaffenden lautet, alle Zielgruppen zu versorgen. Und das ist gut und richtig so. Wir machen darum nicht mehr nur Kultur für einige wenige Menschen, sondern wollen die Stadtgesellschaft in ihrer ganzen Breite und Vielfalt erreichen. Dies ist eine völlig andere Herangehensweise als früher. Es wird versucht, die Stadtgesellschaft dort abzuholen, wo sie gerade aktuell in der gesamtgesellschaftlichen Diskussion steht und sie mit ins Theater oder andere Kultureinrichtungen zu nehmen. Oder man geht dafür mit Projekten und Gedanken raus in die Stadt. Wir bewegen uns heute nicht mehr so wie früher auf einer Einbahnstraße, sondern auf dem dialektischen Weg.
Sind Kunst und Kultur in der Stadt verankert?
Die Antwort ist ganz klar: Ja. Als ich mich im Zuge einer möglichen Bewerbung mit Magdeburg auseinandergesetzt habe, war das sogar der ausschlaggebende Grund dafür, mich für die Stadt zu entscheiden. Bereits als Außenstehende konnte ich das Bekenntnis zur Kulturlandschaft und das damit verbundene Selbstbewusstsein von Stadt und Stadtgesellschaft erkennen. Der Eindruck hat sich vor Ort bestätigt. Wir haben hier eine ausgezeichnete Kulturlandschaft. Die kulturelle Infrastruktur, bestehend aus städtischen und freien Einrichtungen, den soziokulturellen Zentren, den Initiativen und Vereinen, ist hervorragend. Ich bin sehr froh, dass dies durch die Stadtpolitik gesehen und unterstützt wird.
Könnte man so weit gehen, zu sagen, dass die Kultur die Stadt verbindet?
Die Kunstschaffenden agieren hier integrativ. Darum ist das auf jeden Fall so. Vorweg unser großer „Tanker“, das Theater Magdeburg. Nehmen wir nur mal die performative historische Führung „Passionsweg Blau-Weiß“, die aktuell zusammen mit Tänzerinnen des Klub 5 des Spielklubs am Theater, mit dem Theater an der Angel und einer Kneipeninhaberin auf die Beine gestellt wird. Gemeinsam tauchen sie zum 50. Jubiläum des Europapokalsieges des 1. FC Magdeburg in die Fankultur des Vereins und in das Alltagsleben des Jahres 1974 ein. Autorinnen haben Texte dafür geliefert, die Feuerwache und das Literaturhaus bei den Recherchen mitgeholfen. Es gibt keine Berührungsängste – auch Fußballkultur hat ihren Platz in der Stadt.
Wie bewerten Sie die Rolle der Kulturlandschaft in Magdeburg? Und wie steht die Stadtverwaltung dazu?
Ich vergleiche die Kulturlandschaft gern mit einem schönen Garten, der mit vielen verschiedenen Gewächsen die Gelegenheit für Muße bietet. Dort gedeihen verschiedene Arten, große Eichen, die viel Schatten spenden, aber auch kleine Wiesenblumen. Genauso ist die Kulturlandschaft. Egal ob, städtische Einrichtung, Initiative oder Solo-Kunstschaffende – alle haben ein wunderbares Ziel: Sie möchten Kunst und Kultur bieten. Sie machen das, um Menschen zu inspirieren, um ihnen genussvolle und anregende Momente zu verschaffen. Als Stadt geht es uns darum, die Kunst und Kultur weiter wachsen und auch in schwierigen Zeiten gedeihen zu lassen.
Aktuell stehen wir in der Wirtschaft und mit der Gesellschaft vor zahlreichen großen Herausforderungen. Unter anderem sitzt das Geld nicht gerade locker. Wie schwierig ist es, die Fahne der Kunst und Kultur hochzuhalten?
Gerade in schwierigen Zeiten möchten wir als Stadt an unseren Zielen festhalten. Die Kulturstrategie 2030 ist dafür unsere Grundlage. Wir können derzeit nicht alles umsetzen, was wir uns wünschen. Dennoch ist es uns ein wichtiges Anliegen, die vorhandene kulturelle Infrastruktur mit zahlreichen guten Angebote zu erhalten.
Magdeburg hatte sich als Kulturhauptstadt Europas 2025 beworben und musste hinter Chemnitz zurückstecken. Sie sind damals kurz vor der Titelvergabe in die Stadt gekommen. Was haben Sie damals vor allem wahrgenommen?
Ich finde es nach wie vor ganz ausgezeichnet, dass im Vorfeld der Bewerbung als Kulturhauptstadt 2025 die Beschlüsse in großem Einvernehmen und mit einer Stimme gefasst worden sind. Das ist für mich ein besonderes Signal, das ich selten so in einer Kommune erlebt habe. Der gesamte Prozess hat gezeigt, dass in Magdeburg die Kultur nicht – wie andernorts – die Kirsche auf der Sahnetorte ist. Hier ist sie die Hefe im Teig der Gesellschaft. Das hat mir von Anfang an sehr gut gefallen.
Bitte blicken Sie persönlich und als Kulturbeigeordnete auf die vier Jahre zurück, die Sie hier verbracht haben! Welche Transformationen haben sich vollzogen?
Magdeburg ist meine neue Heimat geworden. Magdeburg ist eine wunderschöne, lebenswerte Stadt mit liebenswerten Menschen, die für Transformation und Gestaltungswillen steht. Das müssen wir immer weiter nach draußen tragen. Die Kultur ist in meiner Wahrnehmung viel offener und heterogener geworden. Dadurch konnte sie zugleich auch viel internationaler werden. Das ist eine Transformation, die wir weiter ausbauen möchten. Heutzutage müssen wir die Welt global denken, die Schönheiten und Bereicherungen, die durch Internationalität entstehen, umarmen.
Wie beurteilen Sie die sichtbaren Veränderungen in der Stadt?
Es ist nicht zu übersehen, dass sich vor allem in den vergangenen zehn Jahren sehr viel getan hat. Ich finde es besonders spannend, dass sich die zahlreichen Transformationen, die Magdeburg durchgemacht hat, im Stadtbild darstellen. Hier kann ich konzentriert auf kleinem Raum die historische Stadtgeschichte mit dem Dom oder dem Kloster Unser Lieben Frauen sehen und gleichzeitig das Hundertwasserhaus sowie moderne Architektur wie das neue SWM-Gebäude. Bei einem Gang vom Hasselbachplatz bis zum Uniplatz bekommt man beispielhaft die gesamte architektonische Bandbreite der Ottostadt geboten. Natürlich gibt es in Magdeburg auch Bausünden und Fehlplanungen. Ich vertrete die Meinung, dass man zu den Wunden seiner Zeit stehen sollte. Zeit und Geschichte hinterlassen nun mal ihre Spuren. Wenn das zu sehen ist, finde ich es authentisch. Magdeburg ist eine Stadt der Transformation. Darum ist sie auch so interessant.
Wie entwickeln sich die Stadt und ihr Kulturleben?
Für die weitere Belebung der Kultur in Magdeburg haben wir noch sehr viele spannende Dinge vor. Es gibt so viele Beispiele dafür, dass es kulturell immer weiter nach vorn gehen wird. So soll unser Puppentheater zum Europäischen Zentrum für Puppentheater-Spielkunst ausgebaut werden. Das Technikmuseum möchten wir zu einem Zentrum für Industriekultur im nördlichen Sachsen-Anhalt entwickeln. Und auch im Bereich der freien Szene entwickelt sich so viel. Allein, was in den wunderbaren Kabarett-Häusern und innerhalb der Bildenden Kunst schon jetzt auf die Beine gestellt wird, ist beachtlich. All das wird Impulse für die Zukunft geben. Wir werden in der Stadt dafür sorgen, dass alle Akteure künftig noch mehr ihre Stärken zusammenpacken, um Kultur abseits von traditionellen Sparten zu zeigen.
Auf welchen kulturellen Höhepunkt freuen Sie sich?
Es gibt so viel, worauf ich mich freue. Von großer Bedeutung wird das Jahr 2027 für die städtische Kultur. Magdeburg feiert das 100-jährige Jubiläum der Deutschen Theaterausstellung. Wir werden den Ursprung von einst – die Stadt der Moderne – wieder aufleben lassen, können mit der neu gestalteten Stadthalle und der frischen Hyperschale und dem gesamten Areal ringsherum aufwarten. Das wird ein sehr guter Anlass, der Welt zu zeigen, dass Magdeburg nicht nur in den 20-er Jahren des vorigen Jahrhunderts eine Stadt der Moderne war, die sich auf den Weg gemacht hat. Wir können zeigen, dass sie ist dies auch heute wieder ist. Das wiederum soll und wird sich in der Kulturlandschaft widerspiegeln.
Foto: (c) Stadtmarketing Magdeburg